Buchtipp: Joseph Conrad "Die Schattenlinie"

„Haben Sie nicht gehört, Kapitän Giles, dass ich nach Hause fahren will?“ – „Ja“, sagte er gutmütig, „so etwas habe ich schon oft gehört.“ Tatsächlich wird der junge Kapitän, der in einem südostasiatischen Hafen von einem Dampfer abgemustert hat, weil er, allem überdrüssig, „gefrustet“ würden wir heute sagen, die Heimreise nach Europa antreten will, schließlich doch nach Hause kommen. Allerdings wird er dabei einen ziemlichen Umweg in Kauf nehmen müssen und dabei in erster Linie zu sich selbst finden.

Joseph Conrad (1857 – 1924), als Józef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski und Sohn polnischer Eltern in der Nähe von Kiew geboren, begann seine seemännische Laufbahn 1874 in Marseille. 1886 erhielt er die britische Staatsbürgerschaft und 1888 sein erstes Kommando als Kapitän auf einem Handelsschiff. Zwei Jahre später begann er zu schreiben und 1895 veröffentlichte er mit „Almeyer‘s Wahn“ seinen ersten Roman. Die Seefahrt hatte er da bereits an den Nagel gehängt, Grund dafür war eine schwere Fiebererkrankung, die er sich im Kongo geholt hatte. Conrad blieb in England, seine Romane und Erzählungen zählen bis heute zu den wichtigsten Werken der englischsprachigen Literatur seiner Epoche. „Die Schattenlinie“ trägt autobiografische Züge und entführt uns in die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, auf eine Bark unter britischer Handelsflagge, und nimmt uns mit auf eine Reise, die von Katastrophen gekennzeichnet ist.

Der ungenannte, noch junge Schiffsoffizier lässt sich also dazu überreden, das Kommando über einen Handelssegler zu übernehmen. Nach anfänglichem Zögern überkommt ihn auf einmal ungewohnte Euphorie: „Ein Schiff! Mein Schiff! Es war mein, ganz und ausschließlich mein, mir in Besitz und Obhut gegeben, es forderte Verantwortung und Hingabe. Es wartete auf mich, festgebannt, leblos, außerstande, sich zu regen, in die Welt hinauszugelangen, wie eine verzauberte Prinzessin…!“ Und führt einige emotionale Zeilen weiter aus: „Ich begriff, wie sehr ich Seemann war, wie ausschließlich mein Herz, meine Sinne, auch mein Körper für Meer und Schiffe geschaffen waren; das Meer war die einzige Welt, die zählte, und die Schiffe waren der Prüfstein für Männlichkeit, Temperament, Mut und Treue – und Liebe.“ Mit Bezug auf die „Männlichkeit“ sei hier angemerkt, dass der Gedanke weiblicher Führungskräfte in der maritimen Wirtschaft zu Joseph Conrads Zeiten noch ein absolut undenkbarer war.

Die Realität holt den Protagonisten jedoch bereits vor Antritt seines Dienstes im Gespräch mit dem Agenten wieder ein: „Sicher werden Sie alle Hände voll zu tun haben, um Ordnung zu schaffen.“ Ich fragte ihn, warum er das glaube, und er antwortete seiner allgemeinen Erfahrung nach sei das so. Schiff lange weg vom Heimathafen, Eigentümer durch Kabeldepesche nicht zu erreichen, und der Einzige, der die Umstände erklären könne -(der verstorbene Kapitän nämlich)- tot und begraben. „Und sie selbst sind gewissermaßen ein Neuling im Geschäft“, schloss er, was nicht zu wiederlegen war. Und er fährt fort: „Aber ich werde mich erst ruhig fühlen, wenn ich mein Schiff im Indischen Ozean habe.“ Worauf die lakonische Antwort lautete, dass es von Bangkok bis zum Indischen Ozean noch ein ziemlich weiter Weg sei. Dem Helden sinkt das Herz gehörig in die Seemannshose, aber: „Es würde ein langer Weg sein. Alle Wege sind lang, die zur Erfüllung eines Herzenswunsches führen. Doch diesen Weg sah ich berufsmäßig im Geist vor mir auf einer Karte, mit allen Komplikationen und Schwierigkeiten, dabei doch einfach genug. Man ist entweder ein Seemann oder ist es nicht. Und dass ich einer war, stand für mich fest.“

Die vor ihm liegende Reise wird sich in jeder Hinsicht als Prüfung erweisen. Eine langanhaltende Flaute in Verbindung mit widriger Strömung lässt das Schiff nicht vorankommen. Die Besatzung erkrankt an Cholera und ist nicht mehr handlungsfähig. Das in der Bordapotheke befindliche Medikament gegen Fieber wurde von seinem Vorgänger verhökert, es menschelt, schließlich stürmt es fürchterlich und nur mit einem äußersten Kraftakt gelingt es, das Schiff mit Müh und Not und nur mit Unterstützung des herzkranken Kochs, in den Ausgangshafen zurückzusegeln, wo die Besatzung samt und sonders in ein Hospital eingeliefert wird. Und unser Protagonist? Ist fest entschlossen, das Schiff erfolgreich nach Europa zurückzusegeln und die ihm anvertraute Aufgabe zu erfüllen. Er hat seine Berufung gefunden.

Wie viele Romane und Erzählungen Joseph Conrads gibt auch „Die Schattenlinie“ ein wunderbares und zeitloses Bild von menschlichen Schwächen und Stärken in schwierigen Krisensituationen. Ein Klassiker, der noch heute aktuell und absolut lesenswert ist – und Lust macht auf me(e)hr. Gar kein Problem, denn Conrad hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, das sowohl einzeln als auch in Gesamtausgaben immer wieder neu aufgelegt wird und des Durchschmökerns wahrlich wert ist. Wenden Sie sich vertrauensvoll an Ihre/n örtliche/n Buchhändler*in.